Die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten ist im Jahr 2020 deutlich gestiegen. Das geht aus einer WELT AM SONNTAG vorliegenden Antwort des Bundesinnenministeriums (BMI) auf eine Anfrage der FDP-Bundestagsabgeordneten Linda Teuteberg hervor.
Demnach wurden im vergangenen Jahr 1359 solcher Gewaltdelikte registriert, das waren 29 Prozent mehr als 2019 (1052). Insgesamt wurden 2020 laut BMI 9973 linksextremistisch motivierte Straftaten festgestellt, etwas mehr als im Jahr zuvor (9849).
FDP-Innenpolitikerin Teuteberg sagte WELT AM SONNTAG: „Neben der dynamischen Entwicklung bei Rechtsextremismus und Islamismus beunruhigt auch die Tendenz im Linksextremismus zu immer mehr Gewalttaten. Es gibt keine ethische Überlegenheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus, und jede Verharmlosung kriminellen Handelns als Aktivismus verbietet sich.“
Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) stellte im Vorjahr eine deutliche Radikalisierung in Teilen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene fest. Laut einer Analyse des Geheimdienstes, über die WELT AM SONNTAG vor einem halben Jahr berichtet hatte, wird „die Herausbildung terroristischer Strukturen im Linksextremismus“ für möglich gehalten. „Schwere Körperverletzungen der Opfer bis hin zum möglichen Tod werden billigend in Kauf genommen“, heißt es.
Es finde ein Wechsel der Aktionsformen von der „Massenmilitanz“ hin zu „klandestinen Kleingruppenaktionen“ statt. Die Auswahl von Zielen verschiebe sich „immer häufiger von einer institutionellen Ebene auf eine persönliche Ebene“. Opfer würden „gezielt“ ausgesucht und in ihrem „persönlichen Rückzugsraum angegriffen“.
Schwelle zum Terrorismus
Im November sorgte der Fall der Linksextremistin Lina E. in Leipzig für Aufsehen. Die Studentin war nach ihrer Verhaftung von Beamten in einem Helikopter nach Karlsruhe geflogen worden, wo ein Ermittlungsrichter den Haftbefehl in Vollzug setzte. Seit dem Ende der Rote-Armee-Fraktion (RAF) hat der Generalbundesanwalt nur sehr selten Linksextremisten festnehmen lassen. Doch Lina E. gilt den Ermittlern als Mitglied einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung, die den „bestehenden demokratischen Rechtsstaat“ ablehnt.
Aus Ermittlerkreisen hatte WELT erfahren, man sehe die Gruppierung an der Schwelle zum Terrorismus, es gehe um besonders schwere Angriffe auf politische Gegner. Lina E. wird unter anderem gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. So soll ihre Gruppe im Oktober 2019 in Eisenach einen Anschlag auf einen Treffpunkt der rechtsextremen Szene verübt haben, bei dem der Inhaber des Hauses und Gäste mit Schlagstöcken, Reizgas und Faustschlägen erheblich verletzt worden waren. Laut „Tagesspiegel“ handelte es sich bei den Angreifern um eine Antifa-Gruppe.
Vor zwei Wochen gab es am selben Ort einen erneuten Angriff, diesmal wurde Sprengstoff zur Explosion gebracht, das Wohnhaus wurde geräumt und die Umgebung weiträumig abgesperrt, verletzt wurde niemand. Die Täter sprühten die Parole „Fight Nazis Everyday“ auf die Fassade des Lokals. Seit Silvester haben mutmaßlich Täter aus der linksextremen Szene drei weitere Anschläge verübt.
In Braunschweig gingen Anfang Januar auf dem Gelände der Landesaufnahmebehörde (LAB) zehn Transportfahrzeuge in Flammen auf. Ein gleichzeitiger Anschlag auf ein Gebäude der LAB in Hannover misslang, die Brandsätze zündeten nicht. Die Behörde ist unter anderem für die Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer zuständig. Zu den Angriffen bekannte sich auf der linksextremen Internetseite Indymedia eine Gruppe mit den Worten, „wir haben das mörderische Abschiebesystem angegriffen“.
Nach den Attacken warnte Landesinnenminister Boris Pistorius (SPD) vor einer starken Radikalisierung der Szene, „die sich zu einer terroristischen Struktur entwickelt“. In Leipzig hatten am Silvesterabend mutmaßliche Linksextremisten sieben Geländewagen der Bundeswehr durch Brandstiftung zerstört und weitere beschädigt. Der Minister lässt sein Haus das Verbot von Antifa-Gruppen in Niedersachsen prüfen, wie die „taz“ berichtet.
47 Gruppen werden beobachtet
Vor Monaten hatte eine WELT-Auswertung der Berichte von Bundesamt und Landesämtern für Verfassungsschutz ergeben, dass inzwischen mindestens 47 der bundesweit mehr als 100 Antifa-Gruppen vom Verfassungsschutz beobachtet und als „extremistisch“ eingestuft werden.
Antifa ist die Kurzform von „Antifaschistische Aktion“, die keine zentral geführte Organisation ist, sondern aus lokalen Gruppen samt einem Umfeld von Sympathisanten besteht. Einig sind sich die Zugehörigen der Antifa-Szene in ihrem mehr oder weniger intensiven Kampf gegen von ihnen als „faschistisch“ wahrgenommene Personen und Aktivitäten.
Stand: 24.01.2021 | Von Marcel Leubecher Politikredakteur
Textquelle sowie Rechte: WELT